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Ein Kind ist betroffen

Ein helfender Beitrag (Elternbrief) von
Dr. med. Dieter Hauf, Kinderarzt i. R.,
Vormals Leitender Arzt der Kinderklinik Schömberg, Römerweg 7, 75328 Schömberg

               

Viele Jahre betreute, Dr. med. Dieter Hauf, neben den frühkindlich hirngeschädigten Patienten auch Kinder und Jugendliche, die nach einem akuten Ereignis, z.B. Schädel-Hirn-Trauma bei Verkehrsunfällen, Ertrinkungsunfällen, Hirnentzündungen usw., eine schwere Hirnschädigung erlitten haben.   

Der Schwerpunkt der Betreuung bei der Frührehabilitation ist: Sie kann nur im Team geleistet werden. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass Eltern betroffener Kinder sehr hilflos sind, da sie unverhofft in diese überaus schwierige Situation geraten. Um dem Informationsmangel abzuhelfen und die Behandlungs- und Rehabilitationsplanung zu erleichtern, habe ich einen Elternbrief geschrieben. 

Inhaltsübersicht:

An Eltern und betroffene Familien
Ihr Kind wurde durch ein schlimmes Ereignis getroffen.

Die Ärzte konnten sein Leben retten; Ihre Freude und Erleichterung darüber ist aber bald einer neuen Angst gewichen: Wird mein Kind wieder so wie vorher? Oder wird etwas zurückbleiben? Wird es von einer lebenslangen Körperbehinderung oder geistigen Behinderung betroffen? Wie sollen wir dies verkraften?

Sie sind zutiefst beunruhigt, verwirrt; voll Hoffnung, aber auch voll Angst vor der Zukunft. Wissen kann die Angst nehmen. Wir versuchen, Ihre schwierige Situation zu verstehen. Wir möchten Sie in dieser Lebenskrise begleiten; wir wollen Ihnen helfen, die Erlebnisse zu verarbeiten. Wir unterstützen Sie, dass Sie ihrem Kind eine Stütze sein können.

Dazu ist es zunächst wichtig für Sie, dass Sie wissen, wie die Krankheit verlaufen kann.     

Der Krankheitsverlauf
Kinder und Jugendliche durchlaufen oft in typischer Weise verschiedene Phasen. Der Arzt versucht, sie abzugrenzen, obwohl sie fließend ineinander übergehen können; er beurteilt vor allem den jeweiligen Bewusstseinszustand und die Reaktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des Gehirns. Ist das Gehirn schwer betroffen, so sind auch seine Funktionen schwer beeinträchtigt: Ihr Kind ist tief bewusstlos (Koma), es kann auf Fragen nicht antworten und kann Aufforderungen nicht nachkommen; z.B. wird es nicht die Augen öffnen oder Ihre Hand drücken.

Diese anfängliche Bewusstlosigkeit, die oft über mehrere Wochen nach dem Ereignis anhält, kann manchmal in ein sogenanntes Wachkoma (apallisches Syndrom) übergehen: Dabei hat Ihr Kind zeitweise die Augen geöffnet, es kann jedoch nicht fixieren, d.h. es „schaut ins Leere“, es ist am ganzen Körper steif (Spastik) und kann sich nicht selbst bewegen. Ihr Kind ist nicht bei Bewusstsein, da das Großhirn seine Tätigkeit noch nicht wieder aufgenommen hat. Jedoch können wie durch dichten Nebel hindurch Bruchteile der Umwelt wahrscheinlich aufgenommen, aber nicht gut genug verarbeitet und verstanden werden. Die Nervenzentren im Hirnstamm können meist gewährleisten, dass Ihr Kind atmet und dass sein Herz regelmäßig schlägt.

Die Phase tiefer Bewusstlosigkeit geht zu Ende, wenn Ihr Kind auf einen leichten Schmerzreiz, auf Anruf reagiert oder spontan die Augen öffnet und kurz fixiert (beginnende Remission = beginnende Rückbildung der Schädigung). Es hat jetzt den "minimal responsive Status" (= Status geringer Reaktionsfähigkeit) erreicht.

Durch Zeit und die auf Ihr Kind genau abgestimmte Behandlung und Betreuung besteht die Chance, dass das Gehirn nach und nach seine Tätigkeit immer besser aufnimmt.
Es kommt zu einem langsamen Aufklaren des Bewusstseins (Aufwachphasen = Remissionsphasen), und ihr Kind macht Fortschritte in der Fähigkeit, die Umwelt wieder besser wahrzunehmen und darauf zu reagieren. In diesem Fall beginnt ihr Kind über Wochen und Monaten, Neues zu lernen, sich an Altes zu erinnern und seine Orientierung wieder aufzubauen, in Bezug auf seine Person, auf Raum und Zeit.     

Weitere Informationen zu den sog. Remissionsstufen nach Prof. Dr. F. Gerstenbrand, Wien, entnehmen Sie bitte aus der Erstinformationsbroschüre des Bundesverbandes
Schädel-Hirnpatienten in Not e.V., welche Sie kostenfrei in der Bundesgeschäftsstelle in Amberg (Tel. 09621 / 6 48 00) anfordern können.

Sobald Ihr Kind ausreichend, seinem Alter oder Entwicklungsstand entsprechend, orientiert ist, darf das Ende der Aufwachphase angenommen werden. Ihr Kind ist - jetzt erst - in der Lage, bewusst mit zu helfen in den täglichen Abläufen, aktiv in den verschiedenen Behandlungssituationen mitzuarbeiten und spontan und selbständig zu handeln (Integrationsphase).

In den ersten vier Jahren nach einem derartigen schwerwiegenden Ereignis besteht unter abgestimmter Behandlung und Betreuung eine besonders gute Chance zu einer Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Funktionen (Integrationsstadium).

Dennoch können in jedem Stadium Fortschritte ausbleiben und schwere oder leichtere Behinderungen zurückbleiben (Defektstadium): Zum Beispiel Sehstörungen, Bewegungsstörungen einer Körperhälfte (Halbseitenlähmung) oder des ganzen Körpers (Tetraparese) bzw. Störungen des Gleichgewichts und des Zusammenspiels der Körperteile (Ataxie), Störungen der Sprache, des Gedächtnisses, Störungen des Denkens (geistige Behinderung), gehirnbedingte Krampfanfälle (zerebrales Anfallsleiden, sog. epileptische Anfälle).

Der Beginn dieses Defektstadiums darf vom Arzt also erst nach angemessener Zeit und Intensität der therapeutischen Bemühungen, unter Berücksichtigung der Schwere des Ereignisses, im Einzelfall angenommen werden. Dann ist aus dem Patienten ein Kind mit bleibenden Behinderungen geworden. Aber auch dann muss - immer wieder neu - versucht werden, zusammen mit der Familie das Schicksal anzunehmen und nach Kräften zu gestalten; zu fördern und zu fordern.

Die Rückbildungsphasen
Genauere Kenntnisse vom oft typischen Ablauf der Rückbildungsphasen und ein besseres Verständnis für einzelne Krankheitszeichen (Symptome) werden es Ihnen erleichtern, Ihrem Kind zu begegnen und es anzunehmen. Wissen und Verständnis werden - neben Ihrer Liebe - dazu führen, dass Sie mehr Sicherheit für Ihr eigenes Verhalten finden und diese Sicherheit als Stütze und Hilfe auf ihr Kind übertragen. D.h.: Sie selbst sind mitverantwortlich für eine möglichst ausgeglichene, positive Grundstimmung beim Umgang mit Ihrem Kind und tragen so selbst einen Teil zur Behandlung und Genesung bei.

Das Chaos wird zum Licht-Blick
Ein beginnendes Aufklaren des Bewusstseins ist am Blick Ihres Kindes zu erkennen: Es fängt an zu fixieren, d.h. sein Blick ruht vorübergehend z.B. auf dem Gesicht der Mutter - aber es wird sie (noch) nicht wiedererkennen.

Durch beruhigende, nicht fordernde Zuwendung sind kurze Phasen möglich, in denen das Fixieren, das Aufmerken, das Entspannen Ihrem Kind leichter fallen. Jedoch herrscht in dieser Phase über viele Stunden des Tages und der Nacht ein wahres Chaos: heftiges Erschrecken, anhaltendes Weinen und Schreien, das durch Pflegemaßnahmen oder gut gemeinte Zuwendung oft ausgelöst oder sogar verstärkt wird, Unruhe und Angst, starkes Schwitzen, fehlender Schlaf-Wach-Rhythmus.

Der ganze Körper ist durcheinander: Wahrnehmungsfähigkeit und Verarbeitung der wenigen aufgenommenen Eindrücke sind extrem eingeschränkt (Phase der primitiven Psychomotorik). Dieser Zustand ist für alle Beteiligten sehr quälend, jedoch sind Licht-Blicke im Chaos zu erkennen.

Unsicherheit und Angst
Unwillkürlich versuchen die Kinder und Jugendlichen in dieser Situation ihre innere Unsicherheit

  • zu verbergen durch Ablenken („Wann darf ich nach Hause?“ oder "ich will etwas zu essen!“), durch Ausreden („Ich muss auf’s Klo“),
  • zu überspielen durch eintöniges Reden und Fantasieren, durch Lachen, das gar nicht am Platz ist, durch scheinbar witzige, aber unzutreffende Antworten („Wie alt bist du?“... „alt genug!“);
  • zu entladen durch Schlagen und Toben;
  • ihre Angst zu verdrängen durch Abwenden von der Umwelt durch Weinen

Schon durch kleine, einfach erscheinende Anforderungen im Alltag (Fragen, Entscheidungen, Essen, Behandlungssituationen) können sie ganz schnell überfordert sein; ihre Unsicherheit verstärkt sich, sie geraten typischerweise in Angstzustände oder gar in Panik und/oder Resignation und Depression.

Viele Kinder und Jugendliche überwinden diese schwierigen Etappen - auch wenn es manchmal Monate und Jahre dauert -, und sie gewinnen ihre Lebenslust und Fröhlichkeit wieder, oder doch zumindest eine gewisse Zufriedenheit, ob mit oder ohne Behinderung.

Alle an der Rehabilitation Beteiligten hoffen mit Ihnen, dass Ihr Kind vor Rückschlägen und Stillstand in seinem Krankheitsverlauf bewahrt bleibt, und dass ihm stetige Fortschritte möglich sind.

​Behandlung und Therapie

Sie wissen nun, wie die Krankheit nach einem Unfall oder einem anderen schwerwiegenden Ereignis, von dem Ihr Kind betroffen wurde, verlaufen kann. Es wird bei jedem Kind etwas anders sein. Sie können jetzt besser verstehen, dass sich das behandelnde Team (Ärzte, Therapeuten, Pflegekräfte) und Sie als Angehörige und Freunde auf Ihr Kind, auf seinen Zustand, seine Fähigkeiten und Schwierigkeiten, immer wieder neu und ganz individuell einstellen müssen.

In dieser schwierigen Zeit, in der Ihr Kind und auch Sie selbst sich neu orientieren und zurechtfinden müssen, wollen wir (Ärzte, Therapeuten, der bundesweite Selbsthilfeverband „Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.“ mit gleichbetroffenen Mitgliedsfamilien) versuchen, Ihrem Kind, aber auch Ihnen selbst, zu helfen!

Wie können Sie Ihrem Kind und sich selbst helfen?

Eltern und Angehörige sind meist die engsten und vertrautesten (Bezugs-) Personen. Diese innige Beziehung zwischen Eltern und Kind kann nach einem Unfall oder einer schweren Krankheit, verbunden mit einem längeren Klinikaufenthalt ihres Kindes, belastet und verändert sein. Für den Heilungsprozess des Kindes ist sie aber eine wichtige Grundlage.

Der Nebel lässt sich teilen
Aus der noch vorherrschenden Unruhe und Verständnislosigkeit („Nebel“ der Bewusstseinstrübung) tritt ihr Kind zeitweise heraus: Es lernt wieder, auf reale Situationen zu reagieren, jedoch kaum bewusst, sondern automatisch, zwangsmäßig, ohne sich an Vergangenes sicher zu erinnern:

  • Ihr Kind verfolgt mit den Augen, was sich in seinem Gesichtsfeld bewegt;
  • es versucht alles, was in seine Hand kommt, zu greifen (Zwangsgreifen; Phase des Nachgreifens);
  • es beginnt, den Kopf nach Geräuschen, Lauten, Musik zu drehen und sich z.B. der Mutter zuzuwenden, wenn sie es anspricht; vielleicht gelingt es zu diesem Zeitpunkt, Ihrem Kind regelmäßig oral (über den Mund) Essen einzugeben.

Später kann Ihr Kind zu lächeln beginnen. Es fängt vielleicht an, alltägliche Gegenstände zu untersuchen, es kann sie jedoch noch nicht wieder sinnvoll einsetzen. Es zeigt jetzt Ansätze von Verständnis für Situationen (z.B.: das Essen kommt).

Aber Ihr Kind lebt immer noch zu „Dreiviertel in einer anderen Welt“, nicht in der unsrigen, wie wir sie wahrnehmen, verarbeiten und erinnern.

Das Leben wird wieder spannend
Die Hälfte der Remissionsphase ist jetzt durchschritten, die Lebensgefährdung überwunden, Ihr Kind lebt auf! Es ist tagsüber wacher, schläft zu geregelten Zeiten.

Seine Stimmung ist gehoben (unkritisch/flach, euphorisch); sie kann aber oft ebenso schnell in Zorn umschlagen wie Schmusen in Angreifen, Umarmen in Beißen. Dies alles sollte nicht als zielgerichtet, bewusst gesteuert oder gar böswillig fehlgedeutet werden; vielmehr handelt es sich weitgehend um zwangsläufige Bewegungen (motorische Schablonen wie „Handkuss“, „alles Greifbare - auch Ungenießbares, Gefährliches - in den Mund stecken“). Ihr Kind erscheint heißhungrig
(Vorsicht: Gewichtszunahme!).

Angst und natürliches Schamgefühl können fehlen. Erinnerungen leben langsam wieder auf, Merkfähigkeit setzt zögernd ein; ein Verständnis für einfache Sprache kann beginnen.

Später, im Verlauf von weiteren Wochen oder Monaten, ist es möglich, dass Ihr Kind wieder erste Worte (nach-) spricht. Es benutzt jetzt Gegenstände zielgerichtet: Haare kämmen, mit einem Stift kritzeln - und das Verständnis für Abläufe im Alltag wächst zusehends.

Es kann jetzt auch selbst mithelfen z.B. beim Waschen und Anziehen, sofern es nicht durch eine schwere Bewegungsstörung daran gehindert wird. Dies erfolgt oftmals zunächst in geführten Bewegungen, später dann selbstständig.

Das verflixte Gedächtnis
Wie wichtig Erinnerungsvermögen und Planungsfähigkeit sind - von uns als selbstverständlich erachtet -, wird uns bewusst, wenn uns „etwas nicht einfällt“ oder wenn wir „unterwegs vergessen haben, was wir wollten“. Wir sind ratlos, verwirrt.

Ähnliche „Lücken“ lassen sich besonders stark ausgeprägt - als schwerwiegende Krankheitszeichen - bei Patienten am Ende der Rückbildungsphasen beobachten (nach einem russischen Arzt als Korsakow-Phase bezeichnet): Ihr Kind ist in dieser Phase immer noch nicht voll orientiert:

  • wenig zu seiner Person (es weiß nicht so recht, wie alt es ist ), kaum in Bezug auf Raum (erst nach und nach findet es sich im Aufenthaltsraum oder auf der Station zurecht),
  • und noch gar nicht in Bezug auf Zeit (es überschaut nicht den Tagesablauf und kann nicht erfassen, dass es „nächstes Wochenende“ Besuch bekommt).

Es kann sein, dass Ihrem Kind die Wörter nicht einfallen, obwohl es weiß, was es sagen möchte, oder es kann lange Erklärungen noch nicht verstehen. Das Sprechen macht oft viel Mühe (Dysarthrie).

Ihr Kind wird nur kurze Zeit aufmerksam sein können; es lässt sich von allem ablenken; es kann sich nichts merken, besonders Neues wird schnell vergessen. Es kann sein, dass Ihnen Ihr Kind träge erscheint, ohne Antrieb, lustlos.

Dies kann daran liegen, dass es zurzeit spontan keine Ideen hat, was es tun, wie es ein Ziel erreichen könnte.

Es kann sein, dass Ihr Kind jetzt beginnt zu merken, dass manches anders ist als vorher, dass vieles nicht mehr so geht wie früher!

 Da Sie als Eltern natürlich vom vorherigen Sein auf den jetzigen Zustand schließen, und deshalb erwarten, dass Ihr Kind reagiert und versteht wie vorher, müssen Sie ebenso wie Ihr Kind versuchen zu lernen, die veränderten Gegebenheiten zu sehen und anzunehmenDas mangelhafte Gedächtnis und die schwer zu überblickenden Situationen stürzen besonders die älteren Kinder und Jugendlichen in größte Unsicherheit und Ratlosigkeit und machen sie oft mutlos, ängstlich, traurig, melancholisch.

Eltern und Angehörige
sollten deshalb ihr Kind/ Patienten regelmäßig besuchen; sie verstehen es am besten, ihm Geborgenheit zu geben - eines der elementaren Bedürfnisse des Menschen, gerade auch in einer solchen Ausnahmesituation. Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte freuen sich über diese Zuwendung von Ihnen und erwarten sie auch.

Die Stimme der Mutter und des Vaters und die einmalige Art sich zu geben, sind der wichtigste Anreiz, die Aufmerksamkeit ihres Kindes zu gewinnen. Liebgewordene Dinge, die Sie von zu Hause mitbringen, z.B. das Lieblingsstofftier oder Familienfotos, nähren die Hoffnung, an frühere Erinnerungen anknüpfen zu können. Aufwachen und Wiederorientierung werden dadurch entscheidend erleichtert.

Eltern (und alle anderen auch) sollten sich vor dem Jugendlichen, vor dem Kind so verhalten, als ob von ihm alles verstanden würde: Sprechen Sie zu Ihrem Kind/Betroffenen wie früher! Erzählen Sie ihm von früher, von gemeinsamen Erlebnissen!
Berichten Sie aber auch von der Gegenwart („heute scheint die Sonne“, „ich bin froh, dass du wieder mit mir lachen kannst“!) und erklären Sie langsam, ruhig und in einfachen Worten oder kurzen Sätzen, was als nächstes auf Ihr Kind zukommen wird („ich zieh dir jetzt ein frisches Hemd an“ - „gleich gibt es etwas zu essen“ - „wir gehen jetzt spazieren“).

Eltern sollten verstehen lernen, dass ihr Kind im Moment nicht mehr so ist, wie die Erinnerung vorgibt; Sie sollten sich darauf einstellen, dass ihr Kind vieles wieder neu lernen muss, ähnlich wie es viele Fähigkeiten in seiner Kindheit erst lernen musste.

Eltern sollten ihrem Kind immer wieder folgendes zu verstehen geben, es fühlen lassen, ihm sagen:

  • Wir, deine Eltern, behalten dich weiter lieb;
  • wir werden dich so oft besuchen, wie wir können;
  • wir erklären es dir, wenn wir gehen müssen, aber wir versprechen dir, dass wir wiederkommen, und du bleibst unser Kind;
  • du musst hier bleiben, damit du so viel wie möglich wieder lernst; es wird wieder besser werden; du kommst wieder nach Hause
    (allerdings ist der Zeitpunkt offen!).

Es ist deshalb wichtig, dass Sie selbst Vertrauen haben und Hoffnung und nicht Ihre eigenen Ängste auf das Kind übertragen !
Eltern sollten verstehen, dass ihr Kind auch Ruhepausen braucht, um das, was es hier lernt, auch „verdauen“ zu können.
Eltern sollten ihr Kind nicht überfordern und es nicht zu Leistungen anspornen, zu denen es im Moment noch nicht fähig sein kann.
Eltern (und alle anderen auch) sollten Diskussionen, die für das Kind unver­ständ­lich sind, nicht vor ihm halten, da es dadurch zusätzlich verwirrt würde; dafür findet sich mit Sicherheit anderswo eine ruhige „Ecke“.

Aber auch andere Beziehungen sind in solchen Krisensituationen lebenswichtig und notwendig: In der Akut- und Rehaklinik wird Ihr Kind auch von anderen Bezugspersonen (Fachleuten) versorgt und betreut. Diese können zwar niemals die Eltern ersetzen, aber auch zu Ihnen muss Ihr Kind eine vertraute Beziehung entwickeln können, und sie brauchen dazu das Vertrauen und die Unterstützung der Eltern:

Mitarbeiter im Pflege- und Betreuungsdienst
Als Mitarbeiter der Stationen arbeiten (Kinder-) Krankenschwestern und Krankenpfleger zusammen mit Erziehern und Heilerziehungspflegern und Praktikanten. 

Alle diese Mitarbeiter

  • helfen, dass sich Ihr Kind in der Klinik wohl fühlt, zufrieden ist und sich geborgen fühlt, auch in den Zeiten, in denen Sie, die Eltern, nicht hier sein können (selbstverständlich auch nachts: Nachtwache auf jeder Station);
  • übernehmen sowohl pflegerische als auch medizinische und pädagogische Aufgaben, die harmonisch ineinander fließen müssen (Grundpflege, Behandlungspflege, Erziehungsplan, Freizeitgestaltung).

So sollte Ihr Kind einen geregelten Tagesablauf mit Waschen, Anziehen (!), gemeinsamen Mahlzeiten, gezielten Beschäftigungen und geselligen Spielen erleben dürfen; er sollte möglichst wenig an den schmerzenden, Gerätebestimmten Alltag der Akutklinik erinnern, deshalb sollte das Fachpersonal auf das Tragen von weißen Kitteln verzichten.
In diesen Alltag, der sich im Aufenthaltszimmer mit einer kleinen Kindergruppe abspielen kann, gehen therapeutische Aufgaben mit einher, z.B. spezielle Lagerung oder Esstherapie.

Stationsarzt
Der Stationsarzt ist verantwortlich für medizinische Fragen, für Vorgeschichte und ärztliche Untersuchungen und für die medizinische Behandlung; er berät und informiert die Eltern und sorgt für die so wichtige Koordination aller Maßnahmen (Behandlungsplan, Wochenplan).

Bobath-Konzept
Um das Kind wieder normale Bewegungsabläufe und Situationen in den Verrichtungen des täglichen Lebens (z.B. Anziehen) spüren und erleben zu lassen, wird häufig nach dem Prinzip des sogenannten Handlings nach dem Bobath-Konzept vorgegangen (sprich: Handling, dieses englische Wort bedeutet „ geschicktes Umgehen mit dem Kind“ [„Hantieren“] nach Vorstellungen von Dr. Bobath): Entsprechend den Fortschritten in den einzelnen Aufwachphasen wird zunehmend die aktive Mithilfe Ihres Kindes angebahnt, um anschließend möglichst weitgehende Selbständigkeit zu erreichen und letztendlich im Integrationsstadium eine eigene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit.

Physiotherapeut
(früher: Krankengymnast - KG)
Der Physiotherapeut wird gerade in den frühen Rückbildungsphasen als erstes Ziel immer wieder eine allgemeine Entspannung Ihres Kindes in der Geborgenheit zu erreichen und Schmerzen zu vermeiden suchen; erst wenn möglichst guter Kontakt zwischen Ihrem Kind und seinem Therapeut aufgebaut ist, können kleine Forderungen zu Bewegung im Spiel an Ihr Kind gestellt werden. Versuchen Sie mit auch zu verstehen, dass häufig „Gehübungen“ noch nicht möglich sind, Ihrem Kind sogar schaden würden; vielmehr muss der Physiotherapeut zunächst einfachere, den Fähigkeiten Ihres Kindes entsprechende Haltungs- und Bewegungsmuster anbahnen und üben. Dies ist Voraussetzung für eine spätere bessere Aufrichtung und möglichst normale Bewegungsfähigkeit. Schwerpunkt der Physiotherapie ist es, die Bewegungsmöglichkeit des Kindes zu erhalten und, soweit möglich, zu verbessern.

Ergotherapeut
(früher Beschäftigungstherapeut - BT)

Der Ergotherapeut trägt dazu bei, dass Ihr Kind seinen Körper und seine Umwelt wieder wahrnimmt, begreifen lernt. Er wählt gezielt, auf den jeweiligen Zustand abgestimmt, Situationen, in denen Ihr Kind Sinneseindrücke möglichst gut aufnehmen, verarbeiten und darauf reagieren kann, z.B. Anregung des Tastsinns mit verschiedenen Gegenständen, Anregung des Gleichgewichtsorgans durch Schaukeln.

Ziel ist es, eine gute Wahrnehmungsfähigkeit, die Voraussetzung für alle geistigen Leistungen ist, wieder aufzubauen und dabei auf möglichst normale Bewegungsabläufe zu achten, z.B. beim Greifen, Hantieren mit den Dingen der Umwelt, beim Spielen oder in der Selbsthilfe. Dazu kann er auch verschiedene handwerkliche Techniken einsetzen. Er fördert die geistige und psychische Entwicklung Ihres Kindes, seine Konzentration, Ausdauer, Merkfähigkeit (Gedächtnis), Handlungsplanung usw. und versucht, ihm zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen.

Logopäde (Sprachtherapeut)
Der Logopäde wird bei Kindern, die eine gestörte Mundmotorik haben, eine Mund-Ess-Trink-Therapie durchführen; dadurch besteht eine gute Chance, die Grundlage für möglichst normales Essen zu legen und Ihrem Kind das Essen und Trinken ohne Nahrungssonde zu ermöglichen. 
Gleichzeitig werden dadurch oftmals die Grundvoraussetzungen für das Wiedererlernen des Sprechens geschaffen.

Der Logopäde
wird ein beginnendes Sprachverständnis fördern. Erst wenn Ihr Kind zu einer gezielteren Mitarbeit fähig ist, gewinnt die logopädische Behandlung engeren Sinn und Bedeutung. Erst jetzt können Sprech- und Sprachstörungen (Dysarthrie und Aphasie) genauer erkannt werden.

Die Sprache ist ein wesentliches Verständigungsmittel; deshalb hilft der Logopäde Ihrem Kind, nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten wieder sprechen zu lernen, oder er sucht für Ihr Kind andere Möglichkeiten der Kommunikation (z.B. Zeigetafel, Computer, Augensteuerung…).

Weitere Behandlungsmöglichkeiten eröffnen sich bei manchen Kindern mit der Hydrotherapie (Wassertherapie) und zeitweise evtl. in der Hippotherapie (Behandlung auf dem Pferd) oder anderen Formen der tiergestützten Therapie (z.B. mit Hunden).

Psychologe, Pädagoge
(Neuro-) Psychologen und pädagogische Fachkräfte (Sonderschullehrer, Sozialpädagoge („Elternbetreuer“, Erzieher) ergänzen in engem Kontakt die medizinische Rehabilitationsbehandlung in Bezug auf Wiederherstellung und Eingliederung. Sie wird bereits in frühen Stadien durch psychologische Begleitung und sonderpädagogische Erfahrung erleichtert. Gerade bei einer Langzeitbehandlung gewinnt der pädagogische Aspekt an Bedeutung, vornehmlich in den späteren Rückbildungsphasen und im Integrationsstadium, wenn sinnvolles Handeln in ver­schiedenen Planungsstufen wieder möglich wird.  

Durch diese Gruppe von Fachkräften werden zusammen mit dem Arzt die geistige Leistungsfähigkeit und der Stand der psychischen Entwicklung Ihres Kindes beurteilt. Gemessen an der Belastbarkeit Ihres Kindes und seiner Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit erhält es z.B. in der Klinikschule Lernangebote in kleinen Einheiten (beginnend mit 10 bis 15 Minuten) oder angemessene Spielangebote im Sonderschulkindergarten. Dabei geht es zunächst darum, eine Basis des Vertrauens, der Selbstsicherheit und des Wohlbefindens zu schaffen. Dann lassen sich behutsam elementare Vorgänge des intelligenten Verhaltens in den Bereichen des Denkens, der Sprache, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, der psychomotorischen Abläufe neu aufbauen und festigen.   

Erst später geht es wieder um schulisches Wissen und Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben. Diese Unterrichtseinheiten können dann im allgemeinen im Rahmen des Behandlungs- und Betreuungsplanes gesteigert werden, bis z.B. ein Schulkind wieder fähig ist, einem Einzelunterricht über etwa 5 mal 1 - 2 Unterrichtsstunden in der Woche mit ausreichender Aufmerksamkeit zu folgen.

Orthopädietechniker
Zunächst werden notwendige Hilfsmittel  (meist aus dem Bestand der Kinderklinik) zur Verfügung gestellt. 

Ist es medizinisch angezeigt, wird der Orthopädietechniker-Meister in enger Zusammenarbeit mit Physiotherapeut, Ergotherapeut und Arzt individuell Hilfsmittel auswählen und herstellen, die das Erreichen des Behandlungsziels unterstützen; so können z.B. viele Kinder lernen, sich selbständig mit einem Rollstuhl fortzubewegen und selbstgewählte Ziele anzusteuern. Ein Lifter zum Transfer zwischen Bett, Rollstuhl oder Badewanne erleichtert die Pflege. Auch haben sich  z.B. Kunststoff- oder Schaumstoff-Lagerungsschalen bewährt: Sie geben dem Kind Unterstützung und Halt in möglichst normalen Körperpositionen, die es selbständig noch nicht einnehmen könnte.

Selbstverständlich muss sich Ihr Kind ggfs. langsam an solche Hilfsmittel ge­wöh­nen, und auch die Eltern müssen über ihren Sinn informiert sein und mit dazu bei­tragen, dass sie vom Kind angenommen werden. Später kann vielleicht auf solche Hilfsmittel wieder verzichtet werden.

Hinweis: Einen umfassenden Katalog über Hilfsmittel (Hersteller, Vertrieb) und therapeutisches Spiel- und Lernmaterial können Sie als Mitglied kostenfrei in der Bundesgeschäftsstelle „Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.“, Tel. 0 9621 / 6 48 00) anfordern. Stichwort: REHA-Einkaufsführer

                       

Ziel der Rehabilitation
Ziel der medizinischen, sozialen und schulischen Rehabilitationsbehandlung ist die möglichst umfassende körperlich-geistige Wiederherstellung Ihres Kindes und seiner Selbständigkeit, die Wiedereingliederung in die Familie und in eine den Fähigkeiten des Kindes entsprechende Schule (z.B. Schule für Körperbehinderte, wenn die Regelschule eine Überforderung darstellen sollte). Sobald abzusehen ist, dass die Möglichkeiten der medizinischen (Früh-) Rehabilitation weitgehend ausgeschöpft und die Voraussetzungen für eine bestmögliche, schulische und soziale Eingliederung geschaffen sind, wird ihr Kind den „Schonraum“ der Klinik verlassen können. Es muss nun rechtzeitig besprochen werden, wo Ihr Kind weiter betreut, behandelt und unterrichtet werden kann, und welche Entscheidungen auf Sie als Eltern dabei zukommen. Kurze Beurlaubungen zur Probe vor der endgültigen Entlassung können eine Entscheidungshilfe darstellen.

Für Ihr Kind sollte die beste Möglichkeit der weiteren Betreuung gesucht werden; dabei müssen natürlich in erster Linie die eventuell bleibende Behinderung Ihres Kindes und der vermutete Schweregrad berücksichtigt werden; darüber hinaus aber auch die Situation Ihrer Familie und die Möglichkeiten an Ihrem Wohnort. Alle Vor- und Nachteile einzelner Alternativlösungen müssen abgewogen werden. Bei diesen Überlegungen möchten wir (Ärzte, Therapeuten und der Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.) Ihnen gerne helfen und Sie unterstützen, damit Sie als Eltern - soweit möglich zusammen mit Ihrem Kind - eine gute Entscheidung treffen. Dabei sollten alle Beteiligten sich auch von Gefühlen leiten lassen, auch von Phantasie, mehr aber von kritischer, sachlicher Überlegung.

Ein Weg aus der Krise?
Als Eltern und Angehörigen sind Sie noch getroffen vom Schock des akuten Ereignisses. Sie stehen in einer Grenzsituation des Lebens, in einer Lebenskrise; eine Welt ist zusammengebrochen; die Gefühle der Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit sind überwältigend.

Dennoch erwartet „man“ von Ihnen, dass Sie sich der Realität stellen, Ihr Schicksal, die drohende Behinderung Ihres Kindes, annehmen, bejahen. Dieser Weg ist sehr lang, diese innere Verarbeitung sehr schwierig.

Ihre Situation wird überdies oft erschwert durch Antworten der Ärzte, die für Sie wenig verständlich sind; durch Informationsmangel oder durch unbedachte Äußerungen von anderen, mit denen Sie zusammenkommen, manchmal auch durch fehlendes Verständnis beim Partner.

Sie brauchen Zeit.

  • Sie brauchen einen Zuhörer, dem gegenüber Sie Ihre Ängste und Fragen zu äußern wagen.
  • Sie brauchen Helfer und Begleiter.
  • Sie brauchen Kontakte zu Gleichbetroffenen um sich austauschen zu können

Wir wollen - so gut wir können - Ihnen Zuhörer, Helfer und Begleiter sein.

Wir danken Dr. med. Dieter Hauf, Kinderarzt i. R. (ehem. Leitender Arzt der Kinderklinik Schömberg), der sich mit diesem, bereits 1999 verfassten und 2006 aktualisierten Elternbrief, an Eltern verunfallter Kinder wendet, dessen Erklärungen und Hinweise sich in weiten Teilen aber auch auf die Situation von Erwachsenen übertragen lassen und in ähnlicher Weise gelten. Deshalb sind wir der Meinung, dass dieser Beitrag an Aktualität nicht verloren hat.

Ein Kind ist betroffen!

Hier finden Sie nochmals alle Informationen in einer PDF-Datei.

     

 
 
 
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